Warum die vertriebliche Digitalisierung auf jede Geschäftsführungs-Agenda gehört

Nicht erst seit Corona wird vielerorts händeringend digitalisiert – auch im B2B-Bereich, und oft, ohne damit auch die Wertschöpfung anzuregen. Der Vertrieb wird dabei häufig stiefmütterlich behandelt. Gerade dort können aber Lösungen mit einer großen Breitenwirkung entstehen, und eine bessere Kundenbeziehung ist einer der wirksamsten Wachstumstreiber.

Digitaler Vertrieb ermöglicht ein besseres Kundenerleben

Digitalisierung – wenn damit mehr als die digitale Abbildung bestehender Prozesse gemeint ist – kann die Art und Weise, wie wir mit unseren Kunden interagieren, wesentlich verbessern. Ein zu starker Fokus auf Produktion und Produkte verstellt hier aber oft den Blick. Das zeigt allein schon die große Zahl unzufriedener B2B-Einkäufer. Weniger als jeder sechste Einkäufer würde seinen Lieferanten ein „sehr gut“ ausstellen.[1] Gleichzeitig zeigen Studien, dass Kunden wechselwilliger geworden sind. Laut CX Trends Report 2021 wendet sich mehr als die Hälfte aller Kunden schon nach einer einzigen schlechten Erfahrung von ihren Anbietern ab. Bei mehr als einer schlechten Erfahrung sind es sogar drei von vier, die zu einer anderen Marke wechseln.[2]

Es braucht also nicht nur gute Produkte – die gibt es oft genug auch bei der Konkurrenz –sondern ebenso operative Exzellenz im Umgang mit den Kunden. Das erklärte Ziel: Die Kunden und ihre Anforderungen besser zu kennen als jemals zuvor. Und: Sie durch reibungslose, bequeme Abläufe je nach ihren individuellen Anforderungen zu bedienen. Das kann eine vollautomatisierte Transaktion sein oder auch eine tiefgehende, stets individuelle Beratung.

Beides lässt sich heute mit hinterfragtem Einsatz digitaler Tools im Vertrieb ermöglichen. Die nächste Stufe der Digitalisierung steht dafür, Kundenzentrierung wirklich zu leben, sich völlig auf deren Anforderungen zu konzentrieren, neue Wertangebote und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Der digitale Vertrieb ermöglicht automatisierte Abläufe, und damit eine kosteneffiziente Bearbeitung von B- und C-Kunden, ebenso wie die persönliche Betreuung auf dem immer neuesten Stand und über oft diverse Kanäle. Digitale Tools sorgen für kundenseitige Bequemlichkeit und Sicherheit. Wer bei diesen Themen ansetzt, verbessert das Erleben all seiner Kunden. Begeisterte Kunden kaufen öfter, mehr und zu höheren Preisen. Sie sind auch für Cross-, Up- und After-Selling zugänglicher. Den meisten Umsatz machen Unternehmen üblicherweise mit Bestandskunden. Das besser auszunutzen, macht häufig wesentlich mehr Sinn als ein Produktupgrade.

Mehr Umsatz durch tieferes Kundenwissen

Ein digitaler Vertrieb wirft viel Wissen ab (bzw. Daten, die zu Wissen gemacht werden können) und erlaubt es, eine lückenlose Customer Journey aufzuzeichnen. Jegliche digitale Interaktion hinterlässt Informationen und kann tiefe Einblicke in die Anforderungen der Kunden liefern. Digitalisierung gibt uns die Möglichkeit, dieses Wissen zu schöpfen und strukturiert auszunutzen – das wird aber zu selten konsequent umgesetzt.

Hier geht es darum, systematische, für die Mitarbeiter bequeme Prozesse einzuführen, die dafür sorgen, dass Wissen etwa in einer Datenbank landet, wo CRM- und ERP-Systeme ineinandergreifen und so wertvolle Insights und Innovationsräume ableitbar machen. Ein passendes Data-Warehouse für solche Aufgaben steht immer öfter bereit, wird aber häufig nicht voll ausgenutzt. Progressives Profiling, also die sukzessive Anreicherung von Kundendaten mit neu hinzugekommenen Infos, sorgt, konsequent betrieben, fast zwingend für Fortschritte.

Dass solche Möglichkeiten so selten eingesetzt werden, liegt auch daran, dass im Zuge von Digitalisierungsmaßnahmen ausgeblendet wird, dass diese für die Belegschaft oft tiefgehende Veränderungen bedeuten, und eigentlich zusätzlich zum Projekt-Management auch durch ein Change-Management begleitet werden sollten. Gerade in solchen Bereichen kann Digitalisierung aber die Wertschöpfung anregen, wenn etwa der vertriebliche Außen- oder Innendienst auf ihrer Grundlage neue, individuell treffendere Verkaufsargumentationen entwickelt, oder Informationen, die Mitglieder des Buying-Centers beim Kunden über Social Media geteilt haben, umgehend in die Verbesserung der Kundenprofile wandern. Wer nicht überdenkt, wie der Vertrieb besser mit Wissen und seiner Verfügbarkeit umgehen kann, verzichtet auf eine bessere Marktbearbeitung und riskiert seine Zukunftsfähigkeit.

Bessere Geschäftsmodelle und zugkräftigere Wertangebote durch effektive Vertriebsstrategien

Bei wenigen Themen sind Experten einander so einig wie in dieser Sache: Die Zukunft gehört den (digitalen) Geschäftsmodellen. Dennoch, und sogar bei Unternehmen, die erkannt haben, wie wichtig neue Geschäftsmodelle für ihr künftiges Wachstum sein werden, machen sich sehr wenige auch tatsächlich daran, solche zu entwickeln. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zu den wichtigsten zählen ein hohes wahrgenommenes Risiko und die Sorge, das eigene, bereits bestehende Geschäft zu gefährden.

Wer den Vertrieb ins Zentrum stellt, und bei den echten Kundenproblemen ansetzt, kann Geschäftsmodelle entwickeln, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch auf dem Markt funktionieren werden. Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Unternehmen, das Terrassen verkaufen wollte, hat erkannt, dass nicht das Produkt, sondern der sehr unübersichtliche Markt das eigentliche Kundenproblem war. Die Lösung: Ein Geschäftsmodell, das mithilfe eines CPQ-Systems (Configure, Price, Quote) eine individuelle Beauftragung mit einem einzigen Klick erlaubt. Das neue Geschäftsmodell hat das Zeug dazu, den ganzen Markt umzukrempeln – am Produkt an sich, den Terrassen, ändert sich aber wenig.

Solche Möglichkeiten kann man nur erkennen, wenn man anstatt der Produkte die Customer Journey in den Blick nimmt. Heute können viele Probleme digital gelöst werden, die früher nicht beseitigt werden konnten. Geschäftsmodelle, die den Vertrieb ins Zentrum setzen, verlieren niemals die angepeilten Kundensegmente, ihre spezifischen Probleme und Anforderungen aus den Augen. Auch ein automatisierter Prozess kann die Grundlage für ein effektives Geschäftsmodell sein. Im Übrigen: Die Sorge, das bestehende Geschäft zu gefährden, ist so nicht produktiv – denn wenn das geschieht, sollte man es wenigstens selbst machen.

Vertrieb wird trotz hohen Potenzials oft nicht ausreichend beachtet

Leider scheinen viele Unternehmen nicht wahrzunehmen, wie sehr eine strategische Digitalisierung im Vertrieb das Wachstum befördern kann. Das erkennt man daran, dass nicht nur Digitalisierungsstrategien für den Vertrieb in vielen Unternehmen fehlen, sondern auch eine eigentliche Vertriebsstrategie oft nicht vorhanden – oder wenigstens nicht ausformuliert ist. Eine solche ist nicht nur für den Vertrieb selbst, sondern für das gesamte Unternehmen kritisch, weshalb alle diese Themen auch auf der Agenda der Geschäftsführung landen sollten.

Wer beim Vertrieb ansetzt, setzt bei den Kunden und ihren Anforderungen an. Vertriebliche Innovationen können zukunftsweisend sein. Wer seinen Kunden optimal begegnet, erhöht den Umsatz. Das muss aber hinterfragt und mit Maß und Ziel geschehen. Die Vertriebslandschaft ist komplexer geworden. Plattformen, Co-Selling, Vertriebsallianzen – und diverse Hybridformen – verlangen eine ausgefeilte Strategie, ebenso wie der Einsatz digitaler Tools wie Textminern oder Machine Learning. Ein enormes Feld an Möglichkeiten, das nur erschließen kann, wer den Vertrieb als wichtiges Zukunftsprojekt betrachtet und sich systematisch die nötigen Kenntnisse und Zugänge erarbeitet. Der „einfach mal machen“-Zugang, den viele Unternehmen hier scheinbar bemühen, führt zu Insellösungen, die sich am Ende schwer in ein großes Ganzes überführen lassen und keine Synergieeffekte ergeben. Eine effektive Strategie mit klaren Zielen und eine Ansiedelung dieser Themen auch auf Geschäftsführungsebene ist für die Entwicklung zwingend.

Ein digitaler Vertrieb wird immer mehr zu einem Muss – und bald zum Standard. Früher oder später muss hier eingegriffen werden; und wer es früher macht, zehrt länger davon. Ein Grundpunkt jeder digitalen Transformation ist die Absicht, mehr zu verkaufen. Da sollte es eigentlich naheliegend sein, im Verkauf anzusetzen. Eine bessere, effektivere Vertriebsarbeit bedeutet zufriedenere Kunden, bessere Abläufe … und im Endeffekt: Mehr Umsatz und mehr Wachstum. Das verlangt allseits zugängliches Wissen, datengetriebene Erkenntnisgewinne, effektive Kundensegmentierungen, wirksame, innovative Wertangebote und eine Unternehmens-Vision, die die Menschen emotional aktiviert. Eine vertriebliche Verbesserung kommt immer bei den Kunden an.

Eine Studie belegt, dass die 20 besten deutschen Unternehmen in Sachen Kundenerleben ein etwa dreimal höheres Umsatzwachstum hatten als die 20 schlechtesten.[3] Dieses bessere Kundenerleben beginnt im Vertrieb – und hat wesentlich mit der Digitalisierung zu tun. Die sich bietenden Chancen sollte man sich nicht entgehen lassen.

Quellen:

1 Hartmut Biesel: Vertrieb 4.0: Vertrieb und Marketing in einer digitalen Welt. 2. überarbeitete Auflage. Books on Demand, Norderstedt 2018. S. 77.

2 Stefan Girschner: Kundenerlebnis: Mehrheit der KMU sehen Kundenservice als Umsatztreiber. In: Digital Business Cloud, September 2021. [Einsehbar unter: https://www.digitalbusiness-cloud.de/kundenerlebnis-mehrheit-der-kmu-sehen-kundenservice-als-umsatztreiber/]

3 Jörg Schwarz: Wie zufriedene Kunden zum Unternehmenserfolg beitragen. KPMG, Juni 2020. [Einsehbar unter: https://klardenker.kpmg.de/customer-insights-hub/wie-zufriedene-kunden-zum-unternehmenserfolg-beitragen/]

 

Siegfried LettmannZum Autor:

Siegfried Lettmann ist renommierter Executive Interim Manager mit Schwerpunkt auf TRANSFORMATION IN VERTRIEB UND MARKETING. Er übernimmt temporär Führungsfunktionen in Vertrieb und Marketing, meist mit Fokus auf Geschäftsmodellen, Geschäftsentwicklung und Digitalisierung im Vertrieb.

Seine Arbeit wurde bereits mehrfach preisgekrönt. So ist er Träger des Interim Management Excellence Awards, Innovator des Jahres 2020, Interim Manager des Jahres, und sechsfacher Sieger des Constantinus Award-Wirtschaftspreises auf nationaler und internationaler Ebene. Neben seiner Haupttätigkeit als Executive Interim Manager fungiert er auch als Studienleiter an der European Business School (EBS) und bildet dort selbst Interim Manager auf universitärem Niveau aus. www.lettmann-interim.com

Bildquelle: Detlef Szillat