Birgit Heinermann: „Künstliche Intelligenz ist keine Bedrohung – sie ist ein Rettungsanker“
Interview mit Birgit Heinermann über den Einsatz von KI gegen den Fachkräftemangel im Mittelstand
Frau Heinermann, Deutschland steht 2025 vor einer paradoxen Situation: Einerseits gibt es mehr qualifizierte Arbeitslose, andererseits herrscht in vielen Branchen ein gravierender Fachkräftemangel. Wie passt das zusammen?
Birgit Heinermann: Auf den ersten Blick scheint das ein Widerspruch zu sein, tatsächlich ist es ein strukturelles Problem. Wir haben einen Überhang an Arbeitskräften, die nicht genau den Qualifikationen entsprechen, die in bestimmten Branchen gebraucht werden. Besonders betroffen sind Bereiche wie Maschinenbau, IT, Logistik oder Pflege. Gleichzeitig sinkt durch den demografischen Wandel die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt, und auch qualifizierte Zuwanderung kann diese Lücken bisher nicht ausreichend schließen.
Was bedeutet das konkret für mittelständische Unternehmen in Deutschland?
Heinermann: Der Mittelstand ist besonders stark betroffen. Viele Unternehmen finden – aufgrund des spezifischen Fachkräftemangels – keine passenden Fachkräfte, während sie gleichzeitig unter hohem Wettbewerbsdruck stehen. Das zwingt sie dazu, neue Wege zu gehen, um produktiv zu bleiben. Eine der vielversprechendsten Antworten auf diese Herausforderung ist Künstliche Intelligenz – wenn sie strategisch klug eingesetzt wird.
KI gilt mittlerweile als Schlüsseltechnologie. Aber wie weit ist der Mittelstand wirklich bei der Umsetzung?
Heinermann: Die Potenziale sind erkannt, aber in der Praxis bleibt noch viel Luft nach oben. Studien zeigen, dass etwa drei Viertel der mittelständischen Unternehmen bereits erste KI-Projekte gestartet haben – beispielsweise zur Automatisierung oder zur Verbesserung der Datenverwertung. Aber: Viele dieser Projekte sind punktuell, sie sind nicht in eine übergeordnete Strategie eingebettet. Es fehlt an klaren Zielen, messbaren Erfolgskennzahlen und oft auch an der strukturellen Verankerung im Unternehmen.
Wo liegen Ihrer Einschätzung nach die größten Hindernisse in der Umsetzung?
Heinermann: In drei Bereichen: Strategie, Daten und Know-how. Erstens: KI wird häufig als technisches Einzelprojekt verstanden und nicht in die Unternehmensstrategie integriert. Zweitens: Viele Unternehmen arbeiten mit veralteten oder fragmentierten IT-Systemen. Damit fehlt die Datengrundlage, auf der KI überhaupt sinnvoll arbeiten kann. Und drittens: Es fehlt an Fachkräften mit KI-Kompetenz – also an Data Scientists, KI-Entwicklerinnen oder Analysten. Diese Spezialisten sind schwer zu finden und noch schwerer in mittelständische Strukturen langfristig zu integrieren.
Hinzu kommen vermutlich auch kulturelle Barrieren, oder?
Heinermann: Ganz genau. In vielen Belegschaften herrscht Unsicherheit oder sogar Angst – etwa davor, dass KI Arbeitsplätze ersetzt. Wenn Unternehmen es versäumen, diese Ängste aktiv zu adressieren und den Wandel gut und vor allem rechtzeitig zu begleiten, scheitern viele Projekte schon an der Akzeptanz. Technologisch ist heute viel möglich – entscheidend ist aber, ob die Organisation bereit ist, diesen Weg mitzugehen.
Gibt es Beispiele, wo die Einführung von KI im Mittelstand bereits erfolgreich läuft – und welche Lehren sich daraus ziehen lassen?
Heinermann: Ja, es gibt einige Leuchtturmprojekte, die zeigen, wie KI erfolgreich eingeführt und genutzt werden kann. Ein sehr gutes Beispiel ist das Unternehmen Festo, ein international tätiges Familienunternehmen aus der Automatisierungstechnik mit über 20.000 Mitarbeitenden.
Was genau macht Festo im Bereich KI?
Heinermann: Festo nutzt KI, um Fertigungsdaten zu analysieren und optimale Produktionsabläufe zu simulieren. Ziel ist es, Ausschuss zu reduzieren, Stillstandzeiten zu minimieren und insgesamt effizientere Prozesse zu gestalten. Die Ergebnisse sind beeindruckend: geringere Produktionskosten, gesteigerte Effizienz und eine deutlich verbesserte Lieferzuverlässigkeit.
Also ein klarer ökonomischer Nutzen durch die KI-Integration?
Heinermann: Absolut. Und genau deshalb wird Festo in der Bitkom-Studie 2024 auch als Best-Practice-Beispiel genannt – vor allem, weil dort KI nicht nur punktuell, sondern strategisch in die Prozesse eingebunden wurde. Das Unternehmen ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie mittelständische Strukturen erfolgreich mit neuen Technologien kombiniert werden können – technologieübergreifend, kundenorientiert und zukunftsgerichtet.
Welche Rolle spielt KI darüber hinaus beim Thema Innovation?
Heinermann: Eine sehr zentrale. KI kann nicht nur bestehende Prozesse verbessern, sondern auch Innovationsprozesse beschleunigen. Sie unterstützt bei datenbasierten Entscheidungen, eröffnet neue Geschäftsmodelle und kann dazu beitragen, schneller auf Marktveränderungen zu reagieren. Gerade für mittelständische Unternehmen, die oft in Nischenmärkten agieren, ist diese Flexibilität ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.
Wenn der Nutzen so klar ist – was müsste konkret passieren, damit mehr Unternehmen diesen Weg gehen?
Heinermann: Es braucht ein Umdenken. Unternehmen müssen bereit sein, in digitale Infrastruktur zu investieren, die eigenen Mitarbeitenden weiterzubilden und KI nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu begreifen. Entscheidend ist außerdem, dass KI als Bestandteil der Unternehmensstrategie verstanden wird – nicht als kurzfristiges Projekt, sondern als langfristige Transformationsaufgabe und vor allen Dingen ist KI kein IT-Projekt, sondern ein strategisches Projekt, welches auf der Ebene des Top-Managements verankert werden muss.
Und was passiert, wenn der Mittelstand zögert oder die Entwicklung verschläft?
Heinermann: Dann besteht die Gefahr, im internationalen Vergleich zurückzufallen. Studien wie die von IW Consult und Google prognostizieren, dass KI das Wachstum der deutschen Fertigungsindustrie um fast acht Prozent steigern könnte – was rund 56 Milliarden Euro an zusätzlicher Wertschöpfung bedeuten würde. Wer jetzt nicht handelt, wird von dynamischeren Wettbewerbern überholt – das ist eine reale Gefahr.
Was würden Sie Unternehmen mit auf den Weg geben, die aktuell noch zögern?
Heinermann: Ich würde sagen: Der richtige Zeitpunkt zu handeln, ist jetzt. Wer heute in KI investiert, Mitarbeitende qualifiziert und die Technologie intelligent in Prozesse integriert, wird nicht nur produktiver arbeiten, sondern dem Fachkräftemangel auch aktiv begegnen können. Künstliche Intelligenz ist kein Ersatz für Menschen – sie ist ein Rettungsanker in der Phase des Übergangs, in welcher spezifisch qualifizierte Fachkräfte fehlen, die Baby Boomer samt ihrem Wissen die Unternehmen verlassen und damit in vielen Unternehmen das Fundament zum Wanken bringen. KI ist ein Baustein, um die Zukunftsfähigkeit des Mittelstands zu erhalten.
Über Birgit Heinermann:
Birgit Heinermann (CEO Heinermann Consulting)
Ihre Mission ist es, Technologieverständnis mit einem tiefen Gespür für Menschen, Prozesse und unternehmerische Realität erfolgsbringend zu verknüpfen. www.heinermann-consulting.de