Etikettenschwindel im Job

Suzanne Grieger-Langer: „Neusprech“ gaukelt Kompetenz vor, wo keine ist

Jeder kennt es: Man sitzt in einem wichtigen Meeting und hat den Eindruck, nur Bahnhof zu verstehen. Da man seine Kollegen in dieser misslichen Situation nicht noch extra mit der Nase darauf stoßen will, dass man auf dem Schlauch steht, stellt man lieber keine Frage. Was aber wäre, wenn von den anderen Zuhörern ebenfalls niemand verstanden hat, um was es geht? Allein deshalb, weil der Vortragsredner ganz bewusst auf eine abstrakte Sprache setzt, um zu verschleiern, dass er selbst von Tuten und Blasen keine Ahnung hat? Profiler wissen: In diesem Fall ist man Opfer eines Tricksers geworden, der bei seiner Ansprache gezielt auf „Neusprech“ setzt, um seinen Zuhörern das Gefühl zu geben, nicht mitreden zu können.

Als George Orwell 1949 sein Werk „1984“ auf den Markt brachte, hätte er sich wohl nicht wirklich träumen lassen, dass viele seiner dystopischen Zukunftsfantasien tatsächlich einmal wahr werden würden. Orwell ist quasi der Vater des „Neusprech“ – einer abstrakten und dogmatischen Sprache, die gezielt eingesetzt wird, um die wahren Inhalte und Absichten zu verschleiern. Etikettenschwindel, lautet hier ganz klar das Stichwort. Bei dieser Trickserei handelt es sich inzwischen in vielen Unternehmen um eine beliebte Methode, Aufgaben zu verteilen, die niemand erledigen möchte oder die gleich gar keinen Sinn machen. Kritische Rückfragen sind natürlich unerwünscht.

Kollegen und Vorgesetzte, die auf Neusprech setzen, haben ein klares Motiv: die ihnen Untergebenen sollen nicht mitreden können. Die Sprache

soll sie ausschließen und ihnen gleichzeitig verdeutlichen, dass sie einen niedrigeren Status haben. Beim Verteilen von Aufgaben beispielsweise führt diese Art der Kommunikation dazu, dass derjenige, der die Arbeit übernehmen soll, eingeschüchtert ist und sich nicht mehr traut, kritisch nachzudenken und nachzufragen. Meistens fühlt man sich nach den Ausführungen, die eigentlich erläutern sollten, was genau man tun soll, dümmer als vorher. Das nächste Mal sollte man sich bewusst machen, dass dies ganz sicher nichts mit einer mangelhaften Auffassungsgabe zu tun hat: Vielmehr hat der Kollege oder Vorgesetzte in seiner einschüchternden Rede bewusst auf Codierungen, Veränderungen und Redefinitionen seiner Sprache gesetzt, um einen besonders gelehrten Eindruck zu machen und zugleich vom eigenen Unvermögen abzulenken. Das perfide daran: Für den neutralen, uneingeweihten Zuhörer, der nicht gelernt hat, zwischen den Zeilen zu lesen, findet eine scheinbar positive oder neutrale Unterhaltung statt.

Neusprech soll in der Arbeitswelt dafür sorgen, dass man erst gar nicht auf die Idee kommt, Projekte, Ideen oder Anweisungen kritisch zu hinterfragen. Die Worte des Tricksers sollen den Gedankenspielraum des Zuhörers nicht erweitern, sondern bewusst einengen. Neusprech ist eine verbale Kurzschrift, die oft eine ganze Vielzahl von Gedanken in ein paar Silben zusammendrängt und dabei trotzdem genauer und zwingender ist als die Normalsprache. Die gekürzten Ausdrücke lassen sich schnell aussprechen und hinterlassen ein Minimum an Assoziationen im Kopf des Sprechers. Dabei ist kein Wort des Neusprech ideologisch oder emotional neutral. Es handelt sich nicht im klassischen Sinne um Lügen – vielmehr benutzt Neusprech Euphemismen, die die Realität gekonnt beschönigen sollen. So kann es mitunter sein, dass man ein vermeintlich großartiges Projekt oder Incentiv ans Herz gelegt bekommt, nur um im Nachhinein festzustellen, dass einem der Auftraggeber quasi die Katze im Sack aufs Auge gedrückt hat.

Wer sich in Zukunft vor Neusprech-Attacken schützen will, kann folgende Tipps beherzigen:

  1. Klärung: Wer setzt auf Neusprech? Und was will er damit vermeiden bzw. erreichen? Die Beantwortung dieser Fragen bringt oftmals sehr schnell Licht ins Dunkel.
  2. Risikobewertung: Wie mächtig ist diese Person und wie gefährlich könnte es sein, wenn man das falsche Etikett abreißt und offenbart, um was es wirklich geht? Nur, derjenige, der das Risiko gut einschätzen kann, kann seine nächsten Schritte planen.
  3. Aufdecken: Wer genügend Macht hat, sollte den Trickser unbedingt entlarven. Wenn der betreffende Kollege allerdings mächtiger ist als man selbst, lautet der Ratschlag: freundlich nicken und sich seinen Teil denken!